Verletzlichkeit in Würde leben

Rückblick auf die zweiten Hohenegg Gespräche vom 8. November 2016 im Kulturhaus Helferei in Zürich mit Andreas Kruse und Daniel Hell

Sich mit dem Thema Verletzlichkeit auseinander zu setzen, ist nicht nur angesichts der wachsenden Zahl älterer Menschen unsere gesellschaftliche Verpflichtung, sondern einfach auch deshalb, weil Verletzungen in jedem Leben stattfinden. Im Rahmen der zweiten Hohenegg Gespräche im Kulturhaus Helferei diskutierten der bekannte Zürcher Psychiater Daniel Hell und sein Gast Andreas Kruse, Psychologe und führender Gerontologe im deutschsprachigen Raum, wie Verletzlichkeit und Würde zusammenhängen – bezogen auf den Menschen, auf Institutionen und auf die Gemeinschaft.

Zu Beginn begrüsste Sabine Claus, Organisatorin der Veranstaltung, das Publikum mit rund 220 Interessierten in der wiederum ausverkauften historischen Kapelle und übergab das Wort Daniel Hell, der bis 2014 Leiter des Kompetenzzentrums Depression und Angst in der Privatklinik Hohenegg war. Daniel Hell führte nach der Vorstellung von Andreas Kruse, der in Bonn in Psychologie promoviert wurde, sich an der Universität Heidelberg habilitierte und dort seit 1997 einen Lehrstuhl innehat, in das Thema ein und fragte zunächst nach der Bedeutung von Verletzlichkeit.

Verletzlichkeit ist weit mehr als die Summe von Krankheiten

Verletzlichkeit bildet einen natürlichen Teil unseres Lebens, wie Andreas Kruse betonte, der im Januar 2017 ein neues Buch über Verletzlichkeit und Reife im hohen Alter herausgibt. Aus einer Krankheitserfahrung oder Krise heraus kann Verletzlichkeit entstehen, deren Integration in das Leben eine besondere Aufgabe darstellt. Kruse betonte, wie wichtig es sei, gerade in den Übergangsphasen des Lebens mit Verletzlichkeit leben zu lernen. Er lud dazu ein, Verletzlichkeit aus verschiedenen Perspektiven heraus zu betrachten. Betroffene und Angehörige wie auch die Gesellschaft, Kultur und Politik sind aufgerufen, das Leben in der Verletzlichkeit so zu gestalten, dass auch weiterhin Erfahrungen der Erfüllung, der Stimmigkeit und des Glücks möglich sind. Gerade im hohen Alter würden Menschen immer wiederkehrende Verletzlichkeitsphasen durchleben. Am Ende des Lebens könne schliesslich die Angst davor schwinden und eine Selbstkonzentration als Vorbereitung auf den Sterbeprozess stattfinden. Andreas Kruse hob dabei die hohe Relevanz adäquater Palliative Care in Phasen grosser Verletzlichkeit älterer oder sterbender Menschen hervor.

Daniel Hell stellte in der Folge die Verletzlichkeit dem Begriff der Demütigung gegenüber. Die Demütigung sei eine häufige Ursache depressiver Erkrankungen und führe in der Folge zu erhöhter Verletzlichkeit. Andreas Kruse sprach sogar von tiefgreifender Verletzlichkeit, wenn Menschen unter Konkurrenzdruck von anderen, beispielsweise von Mitschülern oder von Arbeitskollegen, gedemütigt werden. Diese Art von Kränkung könne zu einem späteren Zeitpunkt durch erneutes, sorgsam begleitetes Erleben der Verletzung therapiert werden.

Verletzlichkeit thematisieren, um daran zu wachsen

Um noch einen Schritt weiter zu gehen, wurde die Demütigung von dem Gefühl der Scham abgegrenzt. Daniel Hell führte aus, dass die Scham als Folge des passiven Zustands des gedemütigt Seins ein aktives Konstrukt sei. Die Lösung, um ein solches Schamgefühl zu relativieren, liege darin, es zu thematisieren. Dem pflichtete auch Andreas Kruse bei und nannte das Beispiel eines Schlaganfallpatienten, der seine Partnerin auf die neue eigene körperliche Verletzlichkeit vorbereitete, um das eigene Schamgefühl zu lindern. Zudem betrachtete Andreas Kruse das Gefühl der Scham auf gesellschaftspolitischer Ebene. Gerade angesichts der aktuellen Flüchtlingskrise sei dies äusserst wichtig. Jeder Mensch solle ein Anrecht darauf haben, in unserer heutigen Gesellschaft respektvoll behandelt zu werden, um Schamgefühle gar nicht erst entstehen zu lassen. Zur Verdeutlichung lud Kruse dazu ein, sich vorzustellen, ohne eine gültige Identitätskarte an einem Bankschalter ein Konto eröffnen zu wollen. Ein solches Vorhaben, ohne dabei eine gewisse Art öffentlicher Demütigung in Kauf zu nehmen, sei in unseren Gefilden kaum vorstellbar.

Viele Menschen können mit kränkenden Situationen und dem damit oft einhergehenden Bewusstsein der eigenen Verletzlichkeit dennoch gut umgehen. Doch wie kann Verletzlichkeit ausgehalten oder sogar gelebt werden? Die Antwort liegt in ihrem Gegenspieler, der Resilienz oder Widerstandsfähigkeit. Gemäss Andreas Kruse gründet die Resilienz in einer früh in der Kindheit erworbenen Bezogenheit, beispielsweise auf andere Menschen oder eigene Interessen. Dies sei die Grundlage für die nötige seelische Stärke, Verletzlichkeit zuzulassen und mit ihr leben zu können – sogar gut leben zu können. Als Musikwissenschaftler stützte er diese These mit der Geschichte Johann Sebastian Bachs, der durch die frühen Interessensbezüge zur Musik in seinem Leben schweren Schicksalsschlägen mit bemerkenswerter Widerstandsfähigkeit trotzen konnte.

Meine Würde nimmt mir niemand

Nach den Ausführungen zur Verletzlichkeit, deren Ursachen und dem Zusammenhang mit Demütigung und Scham, brachte Daniel Hell schliesslich den Begriff der Würde ein. Um Verletzlichkeit zulassen zu können, sei unsere Vorstellung von Würde essentiell. Definiert wurde Würde von Andreas Kruse in Anlehnung an Friedrich Schiller: Wer die physiologischen Grundlagen hat, um Mensch zu sein, habe Würde – die ihm auch niemand nehmen könne. Zugleich betonte er, dass die menschliche Würde ein vielfältiges Konstrukt sei und in verschiedene Zusammenhänge gebracht werden könne. So würden Menschen, die ein Amt bekleiden, beispielsweise auch heute noch als Würdenträger bezeichnet. Der subjektiven Vorstellung von Würde stehe die Staatswürde, welche im Gemeinwohl gründet, gegenüber. Nicht zuletzt gebe es die relationale Würde, die sich durch andere und die Beziehungen zu ihnen definieren liesse. Im Falle von sterbenden Menschen spiele auch die letzte Würde eine grosse Rolle. Andreas Kruse schloss hierbei den Kreis zur Verletzlichkeit, indem er die Achtung der Würde als zentrale Bedingung für eine Versöhnung mit der eigenen Verletzlichkeit einstufte.

Kraft der Verletzlichkeit

Der würdevolle Umgang mit Verletzlichkeit verweist zudem auf deren positive Seite. So führte Andreas Kruse aus, dass die grosse Verletzlichkeit angesichts des unvermeidlichen Todes, neue Möglichkeiten offenbaren könne. «Die Begrenztheit des Lebens ist eine Chance», zitierte er einen Probanden einer von ihm geleiteten Studie mit Tumorerkrankten. Das bedeute, in der Verletzlichkeit könne jemandem bewusst werden, was wirklich wichtig ist und für wen oder was die vielleicht letzten Kraftreserven aufgewendet werden sollen.

Nach dieser bewegenden Sicht auf die Verletzlichkeit leitete Daniel Hell über in den Polylog, welcher scharfsinnige Teilnehmerfragen aufwarf und mit der versöhnlichen Erkenntnis geschlossen wurde, dass ein Leben – aber auch ein Sterben – mit Verletzlichkeit möglich ist, solange die eigene Würde in Takt bleibt. Dabei sollte laut Andreas Kruse nebst der Sicht des einzelnen Menschen und seines Umfelds auch immer die institutionelle sowie gesellschaftliche Perspektive miteinbezogen werden. Daraufhin hielt Sabine Claus das Schlusswort, auf welches ein von angeregten Gesprächen begleiteter Apéro folgte – wobei auch bereits das Thema «Selbstentfaltung und Beziehung» der nächsten Hohenegg Gespräche mit Verena Kast am 9. Mai 2017 miteinfloss.

Fotos: Gerry Nitsch, Zürich