Hemmungen – Last oder unterschätzte Tugend?

Rückblick auf die ersten Hohenegg Gespräche vom 22.März 2016 im Kulturhaus Helferei in Zürich mit Florian Werner und Daniel Hell

Wie wichtig das Gefühl der Scham für den Einzelnen und die Gesellschaft ist, zeigt sich schon, wenn es fehlt und sich Scham- oder Hemmungslosigkeit breit machen. Im Rahmen der ersten Hohenegg Gespräche im Kulturhaus Helferei sollte besprochen werden, wohin lang anhaltende Scham führt und wie mit Scheu und Schüchternheit, aber auch mit Beschämung und Kränkung umgegangen werden kann.

Der Berliner Autor Florian Werner hat mit seinem Buch „Schüchtern“ ein Werk vorgelegt, das sich voll und ganz dem Themenkreis Hemmungen widmet. «Ein sehr persönliches Buch, erfrischend offen und reich an authentischen Erzählungen und Episoden» sagte Daniel Hell, Zürcher Psychiater und selbst Autor zahlreicher Bücher zu Beginn der Veranstaltung. «Hier traut sich jemand, aus dem Leben zu erzählen.» Noch bevor die beiden Gesprächspartner in den blauen Sesseln auf der Bühne Platz genommen hatten, wurden erste Ansichten zum Thema hörbar, das offensichtlich zu reden gibt: Die rund 220 Teilnehmer in der restlos ausverkauften Kapelle begannen bereits, sich intensiv miteinander auszutauschen.

Nach der Begrüssung durch die Organisatorin der Hohenegg Gespräche Sabine Claus und den Präsidenten der Stiftung Hohenegg Felix Ammann führte Daniel Hell ins Thema ein und differenzierte zwischen Scham, Scheu und Schüchternheit. Florian Werner erzählte daraufhin freimütig von seinen alltäglichen Ängsten, zum Beispiel der Angst vor dem Telefonieren. Sogar seine hochschwangere Frau hätte nach dem Blasensprung selbst den Notarzt anrufen müssen. Angesichts seiner Schüchternheit sei es erstaunlich, dass er überhaupt auf natürlichem Wege Vater geworden sei, gestand Werner.

Doch nicht nur der Eheanbahnung kann die Eigenschaft im Weg stehen. Denn umso verwunderlicher ist es, dass sich ein schüchterner Mensch wie Werner freiwillig einem Publikum stellt. „Schüchternheit und Bühne, wie geht das zusammen?“ fragte Daniel Hell und sprach damit manch einem Zuhörer aus dem Herzen. Die Bühne sei nicht das richtige Leben, sondern habe viel mit Rollenspiel zu tun, sagte Werner. So sei es sogar für Schüchterne besonders leicht, auf die Bühne zu gehen. «Denn hier werde ich nicht als Person, sondern – hoffentlich – in der Rolle als Autor bewertet», so Werner. «Die Kritik fällt dann nicht auf das persönliche oder private Ich zurück.»

Schüchternheit versteht Werner als heute unterschätzte Eigenschaft. Statistisch gesehen bräuchten schüchterne Menschen zwar für vieles etwas länger, z. B. Familienplanung oder Karriere. Doch mit Blick auf seine Frau und Tochter meint Werner: «Gut Ding will Weile haben. Das Zaudern hat sich gelohnt.» Daniel Hell fand ermutigende Worte für all die introvertierten Menschen unter uns, die gegen ihr tägliches Zaudern kämpfen und deren Beiträge und Qualitäten viel zu häufig überhört werden.

Nach diesem stimulierenden und zugleich nachdenklich stimmenden Dialog brachten sich die Teilnehmenden mit ernsthaft-tiefgründigen, kniffeligen und humorvollen Fragen ein. Bei einem geselligen Apéro und am Büchertisch klang dieser gelungene Auftakt der Hohenegg Gespräche aus. Erste Anmeldungen für die nächsten Hohenegg Gespräche am 8. November 2016 mit Andreas Kruse und Daniel Hell wurden noch am selben Abend getätigt.

Fotos: Eliane Rutishauser, Zürich