Stressbewältigung – wie kann das Leben trotz Belastung gelingen?

Rückblick auf das sechste Hohenegg Gespräch am 2. Oktober 2018 im Kulturhaus Helferei in Zürich

In vielen Lebensbereichen sind während der letzten Jahre die Anforderungen gestiegen. Die Digitalisierung fordert uns enorme Anpassungsleistungen hinsichtlich unserer Reaktionsgeschwindigkeiten ab. Der Druck von aussen und der Druck, den wir uns selbst auferlegen, nehmen zu. Aber die Anforderungen an solch ein Leben auf der Überholspur fordern ihren Tribut: Stressbedingte Erkrankungen wie Depressionen nehmen zu. Im Rahmen des sechsten Hohenegg Gespräches diskutierten Prof. Dr. Ulrike Ehlert, Ordinaria für klinische Psychologie und Psychotherapie an der Universität Zürich unter anderem darüber, wie persönliches Stresserleben und die eigene Anspruchshaltung zusammenhängen und wie sich Männer und Frauen bei der Stressbewältigung unterscheiden.

Dunkle Schokolade und temporäre Vernachlässigung

Über 190 Interessierte verfolgten das von der Stiftung Hohenegg veranstaltete öffentliche Gespräch, das mit einer sehr persönlichen Frage von Daniel Hell zum Stressmanagement von Ulrike Ehlert eröffnet wurde. Die Zuhörenden erfuhren, dass die Akademikerin und zweifache Mutter bei Stress gerne Yoga übt, ein Stückchen dunkle Schokolade geniesst oder in den Garten geht, wo sich belastendes Gedankengut kläre und an Bedeutung verliere. In besonders stressigen Zeiten erlaube sie sich «temporäre Vernachlässigung» in gewissen Lebensbereichen. Im Alltagsstress helfe ihr die Frage, warum sie gerade jetzt so fest an einer stressbehafteten Sache hängen müsse. «Wie relevant ist diese einzelne Herausforderung jetzt gerade vor dem Hintergrund meiner Lebensbiographie? Wie wichtig ist es mir, dass es klappt? Was wäre, wenn es nicht klappt?  Weshalb hänge ich gerade so dran?» Ehrliche Antworten und Loslassen können Stress reduzieren.

Stresssituationen sind komplexe Wechselwirkungsprozesse

Bei Stress ist unsere Reizbarkeit generell erhöht. Weitere Merkmale für Stress sind Gefühle wie Ärger oder Angst. Häufig ist die Schlafqualität beeinträchtigt, Qualitäten wie Kreativität und Muse leiden. Um Stress besser zu verstehen, verwies Ulrike Ehlert auf das Stresskonzept von John Wayne Mason, nach dem die Aktivierung der physiologischen Stresssysteme durch situative Faktoren wie Neuheit, Unvorhersagbarkeit (Kontrollverlust), Antizipation negativer Konsequenzen und Selbstbetroffenheit (Ego-Involvement) mitbestimmt wird. Sie bezog sich ausserdem auf das transaktionale Stressmodell von Richard Lazarus, nach dem Stresssituationen als komplexe Wechselwirkungsprozesse zwischen den Anforderungen der Situation und der handelnden Person mit ihren individueller Verarbeitung betrachtet werden. Konkret ginge es jeweils um die Fragen, wie bedrohlich eine Situation sei, was ich selbst dagegen tun könne und welche Ressourcen mir zur Verfügung stünden. Auf die Frage von Daniel Hell nach der Bedeutung von Erwartungsängsten bei der Stressbewältigung betonte die Stressexpertin die Wichtigkeit der Ausbildung von Grundvertrauen in der Kindheit durch einen adäquaten elterlichen Erziehungsstil. Im Erwachsenenalter würde das Erinnern eigener Erfahrungen in erfolgreicher Stressbewältigung und die damit einhergehende Stärkung des Selbstvertrauens helfen.

Soziale Unterstützung reduziert Stress

Nach Ulrike Ehlert bedeutet Stress nicht für alle Menschen das Gleiche. Menschen können für einen bestimmten Stressor unterschiedlich anfällig sein, Stressfaktoren werden unterschiedlich intensiv wahrgenommen: Ob Alltagsbelastungen, chronischer Stress, kritische Lebensereignisse oder Traumata – jeder Mensch reagiere hierbei anders. Dabei gäbe es kein wissenschaftlich definiertes Profil der Stressresistenz. Bedeutsam sei jedoch die soziale Unterstützung. Ulrike Ehlert verweist in diesem Zusammenhang auf kollektiven Stress, beispielsweise bei Naturkatastrophen wie einem Murgang. Viele Betroffenen können recht gut mit den Folgen einer solchen Katastrophe umgehen. Nur wer zugleich über eine ungünstige genetische Ausstattung verfügt und parallel auf geringe soziale Unterstützung zählen kann, hat eine höhere Wahrscheinlichkeit, an einer Depression oder einer posttraumatischen Belastungsstörung zu erkranken. Auch psychosozialer Stress, Verlustsituationen, Erschöpfung, Kränkung (von Anderen nicht anerkannt werden) oder Ungerechtigkeitserleben können zu psychischen Erkrankungen führen. Ulrike Ehlert verwies in diesem Zusammenhang auf die SECO Stressstudie 2010, die aufzeigt, dass Mobbing am Arbeitsplatz als Stressauslöser unbedingt ernst genommen werden müsse. Bei Stress am Arbeitsplatz sei es entscheidend, ob jemand von seinen Kollegen sowie von Vorgesetzen genügend Unterstützung erfahre – und ob sich diese ihrerseits unterstützt fühlten, denn nur dann könnten Vorgesetzte und Kollegen auch die benötigte Hilfe anbieten. Insgesamt aber, so betont die Professorin, bringen die meisten Menschen die Voraussetzungen mit, um mit Stress umgehen zu können.

Moderner Stress ist eine Folge des Strebens nach Selbstverwirklichung

Das Klagen über Stress hat gefühlt zugenommen und Daniel Hell fragte, ob dies im Zusammenhang mit unserem aktuellen Zeitgeist stünde. Ulrike Ehlert verwies darauf, dass unsere gesellschaftlichen Strukturen uns eine enorm hohe Selbstverwirklichung ermögliche. Wir alle hätten heute extrem hohe Erwartungen an unser Leben. Zudem müsse man viel präsenter sein. Ziemlich viele Menschen glaubten, in ihrer Freizeit auch noch Ausserordentliches leisten zu müssen – und fingen zum Beispiel mit Extremsportarten wie Klettern ohne Sicherung, Rennradfahren oder Marathon an. Einem Teil der Menschen tue Sport wirklich gut. Aber es gäbe viele Leute, die sich den Marathon beweisen müssen und einen Riesenstress haben, weil sie die hohen Trainingsfrequenzen auch noch in ihrem Alltag unterbringen müssten. Ein Marathon selbst sei für den Körper ein massiver physikalischer Stress: Gemäss einer Studie zum Münchner Marathon wurden bei der Mehrheit der untersuchten erfolgreichen Marathonläufer nach dem Lauf Mikroblutungen im Magen festgestellt.

Weiblicher Stress ist anders als männlicher Stress

Gespannt verfolgten die Zuhörer Ulrike Ehlerts Ausführungen zu typisch männlicher und weiblicher Stressbewältigung: Insgesamt seien Frauen, bedingt durch eine grössere Anzahl von biologischen Umbrüchen (Monatszyklus, hormonelle Veränderungen vor und nach einer Geburt, Menopause) wesentlich häufiger Stress ausgesetzt, als Männer. Entsprechend hätten Frauen andere Stressmuster entwickelt. In einer grossen Studie mit Vätern beklagten diese beispielsweise den übertriebenen Drang von Müttern nach Strukturierung, der sich in Aufräum-Aktionen zeige, während für die Mütter mit Mehrfachbelastung Strukturierung als eine wichtige Stressbewältigungsstrategie genannt wurde. Bei Versuchsanordnungen mit Vorträgen oder Kopfrechnen resp. in echten Prüfungssituationen kommunizierten Männer, insbesondere jüngere Männer, insgesamt entspannter und selbstbewusster über den Stress, während bei Frauen der psycho-soziale Stress ausgeprägter sei mit der Folge, dass Frauen sich bei Stress emotionaler und selbstanklagender äusserten. Dabei würde es gemäss Ulrike Ehlert den Frauen nicht wirklich helfen, wenn sie beispielsweise in einer Prüfung bekennen, wie nervös sie seien. Auf biologischer Ebene, abbildbar über den Spiegel des Stresshormons Cortisol, scheinen sich Frauen, zumindest vor der Menopause, insgesamt stressresistenter als Männer zu zeigen, da sich ihre Cortisol-Kurve rascher wieder normalisiere. Östrogen schütze demnach vor Stress. So treten Herzinfarkte bei Männern häufiger als bei Frauen auf, zumindest vor der Menopause.

Viele Wege der Stressbewältigung

Als Daniel Hell nach Strategien der gelingenden Stressbewältigung fragte, erwähnte Frau Ehlert das Resilienzkonzept: Widerstandsfähigkeit bedeute eigentlich, die Anforderungen des Lebens als Herausforderung und nicht als Überforderung zu sehen. Man könne lernen, sich weniger stressen zu lassen. Man könne üben, selbstschädigende Gedanken ein Stück weit in Schach zu halten und damit den Stress besser zu bewältigen. Etwa indem man sich sagt: «Ich habe es schon oft geschafft, warum sollte ich es diesmal nicht schaffen?» Dies gelinge jedoch nur mit einem grösseren Vertrauen in sich selbst und dem Gefühl der Selbstwirksamkeit. Ferner würden psychologische und physische Beruhigung helfen, wie z.B. Achtsamkeit, Meditation, autogenes Training, Tai Chi, Tanz, Joggen oder Yoga, sofern diese Betätigungen Freude machen und sich regelmässig in den Alltag integrieren liessen.
Als letzten Aspekt sprach Daniel Hell die posttraumatische Reifung als Chance der Stressbewältigung an. Ulrike Ehlert betonte hierbei die Fähigkeit, nach einem stressauslösenden Ereignis, z.B. einer Kränkung oder dem Tod eines nahestehenden Menschen, vergeben und dem Ereignis Sinn geben zu können. Die Chance dieses Reifeprozesses bestehe darin, nach dem Stress die eigene Stärke zu erleben und zu merken, dass man trotzdem weiterhin zurechtkommt.

Hilfe bei Stress kommt von innen

Nach diesen Einsichten ins Stressgeschehen leitete Daniel Hell über in den Polylog, welcher zahlreiche, zum Teil sehr persönliche Teilnehmerfragen aufwarf. Ulrike Ehlert unterstrich die Notwendigkeit überhaupt zu erkennen, dass einem der Stress zu viel werden kann. Für viele Menschen sei das Lebensmotto: Immer mehr, immer toller, immer grossartiger. Oder sie seien Konflikten oder wenig beeinflussbaren Situationen ausgesetzt, etwa am Arbeitsplatz, wo gestresste Kolleginnen oder Vorgesetzte selbst erlebte Kränkungen weitergeben und daher nur ungenügend unterstützen könnten. Die Lebenskunst bei der Stressbewältigung sei es, herauszufinden, was wichtig sei im eigenen Leben, wie hoch der Preis für gewisse Dinge sei und was einem wirklich guttue. Jeder sei aufgerufen, seine persönlichen Ansprüche an den Lebensstil zu überdenken und sich zu überlegen, wie viel er zu geben bereit ist, um sie zu erfüllen. Ausserdem solle man sich klarmachen, dass Hilfe bei Stress nicht von aussen komme, sondern nur von einem selbst. Daniel Hell schloss mit dem Gedanken, neben der Frage, «Was will ich vom Leben?» auch einmal zu fragen «Was will das Leben von mir?» Das sei eine andere Form der Stressprävention.

Fotos: Rolf Murbach