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Im Umbruch

Die Corona-Krise fordert die Privatklinik Hohenegg in nie dagewesener Weise. In kurzer Zeit haben wir unsere Therapien umgestellt und den gegenwärtigen Anforderungen angepasst. Unter Mitarbeitenden und Patientinnen und Patienten erleben wir eine grosse Verbundenheit und trotz der schwierigen Situation Zuversicht.

Von Prof. Dr. Stefan Büchi, Ärztlicher Direktor

Auch die Welt der Hohenegg hat sich in den letzten Wochen bewegt. Innerhalb von Tagen sind Sicherheiten weggebrochen und über Jahre entwickelte fein abgestimmte Abläufe wurden innerhalb von weniger als drei Wochen neu angepasst. Jeder einzelne Mitarbeiter, jede einzelne Mitarbeiterin ist nicht nur am Arbeitsort, sondern auch zu Hause herausgefordert. Eine Mitarbeiterin bangt um das Leben ihres an Corona erkrankten Vaters, der nun seit zehn Tagen auf der Intensivstation gepflegt wird. Das grösste Leiden einer anderen Angestellten besteht darin, dass sie ihre nahestehende 43-jährige Verwandte, die in den USA bei metastasierendem Brustkrebs behandelt wird, nun nicht mehr besuchen kann. Bei einem anderen sind die Wohnverhältnisse in der Dreizimmerwohnung mit zwei pubertierenden Töchtern im Home Schooling und einer angespannten Ehefrau im Homeoffice eine zehrende Belastungsprobe.

Wie können wir in dieser disruptiven Zeit für unsere Patientinnen und Patienten sowie für unsere Mitarbeitenden ein Ort der Sicherheit und Geborgenheit bleiben, der Ruhe ausstrahlt und den Gesundungsprozess unterstützt? In unserem Hohenegg-Kontextmodell sind die systemischen Bezüge zentral. Wir verstehen therapeutische Arbeit als einen Prozess, in dem das Selbst-Vertrauen des in seinem Weltentwurf erschütterten Menschen sowie das Fremd-Vertrauen in die ihn betreuenden Menschen – und auch in die ihn behandelnde Institution – wachsen sollen. Wir möchten die sozialen Bezüge unserer Patienten in ihren Familien, am Arbeitsort und im Netz der Freunde und Bekannten fördern. Aber wie können wir die familiären Bindungen fördern, wenn wir das Verbot für Angehörige, unsere Klinik zu besuchen, umsetzen müssen?

Balance zwischen Sicherheit und therapeutischem Anspruch

Noch im Februar habe ich mich in einem Interview kritisch gegenüber digitalen Medien geäussert und die Hohenegg als Ort des analogen, sinnlichen Heilens präsentiert. Wie gehen wir nun aber damit um, dass wir die Therapien mit direktem Körperkontakt wie Shiatsu oder Physiotherapie einstellen müssen? Wie können wir den sozialen Austausch, den wir als zentrales heilendes Agens unserer Behandlungen verstehen, fördern, wenn Social Distancing angesagt ist? Wie finden wir eine gute Balance zwischen dem Wunsch nach möglichst viel Sicherheit und therapeutischem Anspruch? Wie können wir für die Patienten und Mitarbeiter Sicherheit und Stabilität vermitteln, wenn die Vorgaben des BAG und der Gesundheitsdirektion im Wochentakt ändern?

In meinen vergangenen 30 Berufsjahren bin ich noch nie mit so vielen grundsätzlichen und gleichzeitig neuen Fragen konfrontiert worden, die jeweils in sehr kurzer Zeit zu beantworten sind. Ich bin sehr dankbar, dass ich in dieser Corona-Krise auf gut eingespielte und vertrauensvolle Beziehungen in der Klinikleitung und zu den nächsten Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zählen kann. Wir sind in den letzten Wochen noch enger zusammengerückt und lösen die immer wieder neu auftauchenden Probleme und Herausforderungen im Team. Dabei nutzen wir die Eigenheiten jedes Einzelnen, um zu möglichst sinnvollen Entscheidungen zu kommen. Der Ängstliche richtet sein Augenmerk auf den Sicherheitsaspekt, die therapeutisch Fokussierte setzt sich für die Qualität der Therapie ein, der gut Informierte bringt die gesellschaftliche Perspektive ein. Unter Berücksichtigung all dieser Aspekte fällen wir Entscheide, die breit abgestützt und meist ausgewogen sind.

Umstellung auf telefonische Konsultationen

Auch die Veränderungen in unseren ambulanten Zentren waren tiefgreifend: Innerhalb von wenigen Tagen wurden alle ambulanten Leistungen unseres AZZ (Ambulantes Zentrum Zürich) auf telefonische Konsultationen umgestellt, und unser umfassendes Gruppenangebot musste schweren Herzens vollständig eingestellt werden. Die Mitarbeitenden des ZPG (Zentrum für psychische Gesundheit) am Spital Zollikerberg und im Spital Männedorf leisten nun neben der Betreuung von Patienten sehr wichtige psychologische Unterstützungsarbeit für die Mitarbeitenden in den somatischen Abteilungen, welche zur Zeit durch die Corona-Epidemie bis an ihre Belastungsgrenzen gefordert sind.

Ich erlebe diese Zeit des Umbruchs wie einen Wellen-Ritt, und im Umgang mit der gewaltigen Corona-Welle versuchen wir die bedrohliche Naturkraft gleichsam einem Surfer zu nutzen – und der Wucht zu trotzen. Die neuen Konstellationen sind für uns auch Chancen, uns weiterzuentwickeln. So haben wir die Therapien bereits verstärkt auf naturnahe Achtsamkeit ausgerichtet und konnten beispielsweise auf die spezifischen Kompetenzen einer Mitarbeiterin zurückgreifen, die vor wenigen Monaten ein Buch zur Lebenskunst Spazieren publiziert hat. Es ist zudem ein Glücksfall, dass wir den wunderbaren Naturraum, der die Hohenegg umgibt, vermehrt und viel bewusster nutzen können.

Ungewohnte und kreative therapeutische Ansätze

Als kreativ nehme ich auch wahr, dass wir anstelle des Berührt-Werdens durch eine Therapeutin, neu eine Methode zur heilsamen Selbst-Berührung einsetzen, die sogenannte Makko-Ho-Therapie.  Und für die Entspannungsarbeit greifen wir auf die via App einfach nutzbare Technik des Bio-Feedbacks zurück. Mit diesen Methoden fördern wir die Nachhaltigkeit der Therapieeffekte, auch weil deren Einsatz nicht mehr abhängig ist von Therapeutinnen, sondern in Selbstkontrolle durchgeführt werden kann.  Ein letztes Beispiel veranschaulicht, wie ich infolge des Verbots, dass Angehörige die Klinik nicht betreten dürfen, mein therapeutisches Repertoire erweitern konnte. Der Patient leidet an Eheproblemen, die Präsenz seiner Frau war wichtig. So führte ich die Psychotherapie nicht in meinem Therapieraum durch, sondern beim Gehen im Freien, wo wir den Abstand von zwei Metern einhalten konnten. Ich erlebte dabei, dass Therapie durchaus auch im Freien gelingen kann, ja sogar eine eigene Qualität entwickelt. Die beiden Ehepartner kamen dabei in einen guten Austausch.

Wir nehmen bei unseren Patientinnen und Patienten ein verstärktes Bedürfnis nach Transzendenz und Verankerung in einem persönlichen Sinn-Kontext wahr. Ich bin daher sehr dankbar, dass wir mit den beiden Seelsorgern der Landeskirchen einen intensiven Austausch pflegen dürfen. Ihre spirituellen Angebote finden bei den Patienten grossen Anklang. Die Gestaltung der Osterfeier am Ostersonntag begeisterte und berührte mich: Auf einem Parcours mit fünf Stationen auf unserem Gelände konnten die Patientinnen und Patienten in kleinen Gruppen wichtige Anregungen teilen und tiefe Erfahrungen machen.

Bisher wurden wir zum Glück von einer Corona-Infektion bei Patienten und Mitarbeitern verschont und die Heilkraft unserer Therapien erscheint weiterhin wirkungsvoll. Die Patientengruppe ist eng zusammengerückt, und die Intensität des Austausches ist noch grösser geworden – immer unter Einhaltung der Sicherheitsvorgaben des BAG. Ich erlebe die Solidarität unter den Mitarbeitenden, aber auch unter den Patienten und Mitarbeitenden als sehr hoch. Wir sind alle bedroht, jeder auf seine Weise. Das hat die Verbundenheit und Zusammengehörigkeit gestärkt – wir alle begegnen uns auf Augenhöhe. Jeder Einzelne steht in einem intensiven Lernprozess, es geht darum, Altes loszulassen und sich den neuen Realitäten zu stellen. Eine radikale Akzeptanz einer neuen Welt mit Corona ist die Herausforderung der sich alle – ob Patient/in oder Therapeut/in – zu stellen haben.

[PDF] Im Umbruch – S. Büchi April 2020